Die historischen Anfänge des Tai Chi oder „Wer hat Tai Chi erfunden?“
Einer der vielen Mythen und Legenden zur Entstehung des Tai Chi erzählt, dass der Mönch Zhang San Feng einst vom Kampf zwischen einem Kranich und einer Schlange inspiriert das Tai Chi erfand. Eine romantische Geschichte, aber wie ist es mit der historischen Wahrheit bestellt? Was können wir tatsächlich über die historischen Anfänge des Tai Chi sagen, oder kurz: Wer hat Tai Chi erfunden? In einer kleinen Artikelserie zur Geschichte des Tai Chi wollen wir die historische Realität des Tai Chi erforschen.
Wer hat Tai Chi erfunden?
Versucht man die historischen Anfänge des Tai Chi zu skizzieren, wird man sogleich mit dem aus der Kommunikationstheorie bekanntem Problem der Interpunktion konfrontiert. Diese Art von Interpunktion befasst sich nicht mit der richtigen Kommasetzung, was zugegebenermaßen ein Problem sein kann, sondern mit der Frage, wer oder was am Anfang einer momentanen Streitsituation stand. Auf das Tai Chi und seine historischen Anfänge übertragen, ergäbe sich somit folgende kommunikative Situation bzw. Streitgespräch:
- Chen Wang Ting (1587-1664) hat es erfunden!
- Gar nicht wahr, ohne Wang Zong Yue (17. Jh.) und Qi Ji Guang (16. Jh.) hätte er gar nicht gewusst, was kämpfen heißt!
- Und vergesst bloß nicht Chen Ling Xi (7. Jh.), der hat da auch noch mitgemischt.
- Und wie ist das mit Zhang San Feng (13. – 14. Jh.) Jh.), hat der nicht das Tai Chi quasi im Traum erfunden, du weißt schon, der Traum von der Schlange und dem Kranich?
- Alles Quatsch! Der Sungkaiser Taizu (10. Jh.) war es!
- Stimmt überhaupt nicht, die Tangkaiser (7. – 10. Jh.) haben schon Tai Chi gemacht, da war Taizu noch gar nicht geboren.
- Ihr habt schon wieder das Changquan der Handynastie (1. Jh.) übersehen!
- Was für ein Gewäsch, jeder weiß doch, dass der Gelbe Kaiser Huangdi (3. Jahrtausend vor Christus) die Kampfkünste und damit das Tai Chi erschuf.
- Und was ist mit Eva? Und Adam?
Wie man sieht, ist es gar nicht so einfach, den Zeitpunkt festzulegen, wann das Tai Chi beginnt zu existieren.
Was ist der Anfang von Tai Chi?
Dies hängt zum einen damit zusammen, dass man im Grunde zuerst definieren müsste, was Tai Chi eigentlich ist. Sieht man das Tai Chi als weiche bzw. innere Kampfkunst (Neija) innerhalb System des Quanfa (alle chinesischen Kampfkünste überhaupt), dann ist das Tai Chi so alt wie die ganze chinesische Kultur, ein Zweig im Stammbaum der chinesischen Kampfkunst.
Definiert man Tai Chi dagegen als Meditation in Bewegung, betont also die gesundheitlichen und sportlichen Aspekte, dann wurde das Tai Chi eigentlich erst im 20. Jh. erfunden, nämlich mit der Propagierung des Wushu (chinesische Kampfkunst ohne Kampf) durch die kommunistische chinesische Regierung.
Definiert man Tai Chi aber als beides, nämlich Kampfkunst mit gesundheitlichen Aspekten, und möchte zusätzlich noch, dass der Erfinder eine historisch belegte Person ist, deren reales Leben nicht allzu sehr von Mythen und Legenden umrankt ist, dann bleibt eigentlich nur ein Erfinder des Tai Chi, nämlich der bereits genannte Chen Wang Ting, seines Zeichens wohlverdienter General unter der Mingdynastie, nach deren Absetzung durch die Qingdynastie jedoch in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, in welchem er dann das Tai Chi (neu) erfand.
Hat General Chen Wang Ting Tai Chi erfunden?
General Chen Wang Ting soll es also gewesen sein, der seine Erfahrungen mit den verschiedenen Kampfkünsten seiner Zeit in einem neuen Kampfstil bündelte, genannt Taijiquan, also unser modernes Tai Chi. Jedoch gibt es über Chen Wang Ting wenig gesicherte Informationen, vieles ist Legende oder Überlieferung der Chen-Familie, die natürlich nicht unparteiisch ist.
Was man über den General weiß, ist das Folgende: Zu Cheng Wang Tings Lebenszeit (1587-1664) erlebte China eine Zeit des Umbruchs, 1644 ging die regierende Ming-Dynastie durch Rebellionen und Bürgerkrieg unter, und die Mandschu, „Barbaren“ aus dem Norden, kamen an die Macht und gründeten eine neue Dynastie, die Qing-Dynastie, und regierten bis 1911, nicht immer ohne Probleme und Spannungen zwischen den Mandschu und den Han-Chinesen.
Als General der Ming fand Chen Wang Ting in dem nun von den Mandschu dominierten Heer keinen Platz mehr und zog sich in sein Heimatdorf Chenjiaogu in der Provinz Henan zurück, um dort das Lebens eines Shi zu führen.
General Chen vom Soldaten zum Gelehrten
Der Begriff Shi beschreibt einerseits eine soziale Position, nämlich die eines bäuerlichen Gelehrten oder eines gelehrten Bauer, andererseits aber auch eine Lebenseinstellung. In einem Gedicht über sein neues Leben beschreibt Chen Wang Ting selbst, was damit gemeint ist: Rückzug aus einer materialistischen Welt in ein einfaches Leben als Bauer und Lehrer, der sein Land bestellt und seine Kinder und Studenten lehrt, das Studium philosophischer Schriften, Glück und Gelassenheit auch angesichts des Spottes der Welt in einem verinnerlichten Leben. Aus dieser Einstellung heraus das Tai Chi zu entwickeln, eine weiche Kampfkunst, die das rein Physische zu transzendieren und das innere Wesen herauszubilden sucht, ist dann nur noch ein logischer Schritt. Weiter inspiriert bei der Entwicklung seiner neuen Kampfkunst wurde Chen Wang Ting von den Traditionen der Chen-Familie, aber auch von Qi Jiguang, einem Helden der Ming-Dynastie und Schriften seiner Zeit zu chinesischer Medizin, Meditation und Daoyin.
Gleichzeitig war es aber harte Notwendigkeit, sich in der Kampfkunst zu üben: Die alte Dynastie war abgeschafft, die neue Dynastie noch nicht sicher im Sattel, es wimmelte in China von Räubern, Rebellen und herrenlosen Soldaten, so dass die Dörfer dazu in der Lage sein mussten, sich selbst zu schützen, der Kaiser in Bejing hatte anderes zu tun.
All dies führte zur Entwicklung des Tai Chi, so zumindest die Chen-Geschichtsschreibung. Andere sagen, dass ein kleiner Provinzgeneral nie so etwas Komplexes wie Tai Chi hätte erschaffen können und suchen nach anderen Wurzeln. Doch dazu mehr im nächsten Teil über die Anfänge des Tai Chi.
Autor: Walther Steinmetz