TRADITION
FLIESSENDE BEWEGUNG - INNERE KRAFT - UNSTERBLICHKEIT
Tai Chi Chuan ist Meditation in Bewegung und stellt eines der vollständigsten gesundheitsorientierten Übungssysteme überhaupt dar. Tai Chi Chuan ist ein ganzheitliches, traditionelles Trainingsprogramm für Körper, Geist und Psyche, das auf den wissenschaftlichen und philosophischen Errungenschaften der chinesischen Kultur aufbaut.
Die Philosophie, die dem Tai Chi Chuan zugrunde liegt, ist der Taoismus. Er entwickelte sich in China am Ende der Chou-Dynastie (ca. 1030-480 v. Chr.) und in der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.).
Taoismus vereint zwei unterschiedliche, aber dennoch zusammenhängende Traditionen: eine philosophische Schulrichtung - als deren Hauptvertreter Lao-tse und Chuang-tse gelten - und den religiösen Taoismus. Die ursprünglichen Heilsvorstellungen des religiösen Taoismus richten sich auf „Langlebigkeit" und „Unsterblichkeit". Die Anhänger dieser Vorstellungen waren regelrechte Experten für Techniken zur Pflege des menschlichen Lebens. Dazu gehörten etwa Atemtechniken, Gymnastik, Kampftechniken, Diätetik und Sexualpraktiken.
Aus dieser spezifischen Verbindung von Philosophie, Religion und Medizin, ist das Tai Chi Chuan & Chi Kung hervorgegangen und im Verlauf der Jahrhunderte immer weiter entwickelt worden.
"Nähre Dein Selbst in dir,
still und ruhig in der Leere,
und verbirg das Licht an der Quelle,
das deinen ganzen Körper erleuchtet.
Verschließe deinen Mund,
halte den spirituellen Trunk im Inneren zurück,
verschlucke alle Sinne,
und wache über die zarte Perle.
Betrachte es dort, das Nicht-Offenbare -
So nahe vor dir, so leicht zu finden.
Praktiziere eifrig,
Tag und Nacht, ohne Unterlaß,
zügle drei Jahre lang deinen Appetit, und du wirst leicht und streifst weit umher.
Du gehst durchs Feuer und verbrennst dich nicht,
du gehst durchs Wasser und benetzt dich nicht;
du kannst wählen zwischen Sorgfalt und Nachlässigkeit,
und in Glückseligkeit wachsen, ohne Trauer zu verspüren.
Der Pfad kommt an ein Ende, die Kraft ist erlangt,
und im Verborgenen erwartest du die Stunde,
in der das große Eine selbst dich ruft,
auf dass du dich niederlässt auf der einsamen Insel.
Ist dann dein Werk vollendet, erhebst du dich,
und dein Name erscheint im Buch der Unsterblichen."
Wei Boyang, Cantong Qi, Kapitel 11 (ca. 120 n. Chr.)
Auf körperlicher Ebene trainiert der Tai Chi-Übende Kraft und Fitness, Beweglichkeit, Koordination. Er übt sich zudem in tiefer Atmung, Sensibilität und Entspannung. Auf psychischer Ebene trainiert er: Ruhe und Gelassenheit, Aufmerksamkeit und Konzentration, innere Balance und Stabilität.
Das organisierte Zusammenspiel dieser einzelnen Elemente führt schon nach kurzer Zeit zu außergewöhnlichen Trainingserfahrungen, etwa einem intensiveren Selbstbezug und mühelosere Selbstwirksamkeit.
Die zentrale Übung im Tai Chi Chuan ist die so genannte Form. Die Form ist ein ruhiger und fließender Bewegungsablauf. Die reichhaltigen Übungsprinzipien, die innerhalb der Form trainiert werden, führen jeden Übenden nach und nach zu größerer körperlicher und psychischer Gesundheit und somit zu wesentlich größerem Wohlbefinden und besserer Belastbarkeit. Dabei stärkt der Übende seine Gesamtkonstitution und optimiert seine Stressbewältigungskompetenzen.
Im Kontakt mit anderen erfährt der Übende, wie sich trotz der Weichheit der Bewegungen eine außergewöhnliche Kraft entwickelt.
"Tai Chi Chuan" lautet übersetzt in etwa: „Faustkampf gemäß der universellen Prinzipien von Yin und Yang".
"Chuan" bedeutet Faustkampf, "Tai" heißt das Höchste oder das Größte. Chi (Ji) bedeutet Pol. Es ist nicht identisch mit dem Wort Chi (Qi), wie es in Chi Kung (Qigong) vorkommt, und das Energie, Atem oder Lebensaktivität bedeutet.
Tai Chi heißt also "Höchster Pol". Im I Ging, dem Buch der Wandlungen (ca. 7./6. Jahrhundert v. Chr.), liest man hierzu: "In den Wandlungen gibt es einen Höchsten Pol, der Yin und Yang hervorbringt". Im chinesischen Mittelalter wurde der Höchste Pol, Tai Chi, mit dem Leeren Pol, Wu Chi, gleichgesetzt. Man kann dabei an den Polarstern denken, um den sich unaufhörlich alle Sterne des Universums im Kreis bewegen und abwechselnd Tag (Yang) und Nacht (Yin) hervorbringen. Der Polarstern selbst verharrt dabei aber unbewegt.
Chi Kung (auch „Qigong" geschrieben) bedeutet Atem- oder Energieübung. Letztendlich ist es ein Überbegriff für eine Vielzahl von bis zu 3000 Jahre alten meditativen Atem-, Kraft- und Wahrnehmungsübungen, die chinesische Heiler und Meditationslehrer bis in die heutige Zeit überliefert haben.
Charakteristisch für die Chi Kung-Übungen ist es, dass sich der Übende nicht zu sehr anstrengt und auch nicht zuwenig. Man soll ein wenig warm werden, so dass man leicht schwitzt.
In diesem Zusammenhang ist Tai Chi Chuan eine Chi Kung-Übung in Bewegung. Eine Reihe zusätzlicher spezieller Chi Kung Übungen des alten Yang-Stils werden im Stehen und in Ruhe ausgeführt und sind neben der „Form" der zweite wichtige Übungsbereich des Tai Chi Chuan.
In unserem westlichen Verständnis beinhalten die meisten Chi Kung Varianten ein koordiniertes isometrisches Muskeltraining, kombiniert mit intensiven Atem- und Körperwahrnehmungsübungen mit vielseitigen positiven gesundheitlichen Effekten.
Ziel aller Chi Kung-Übungen ist es, einen kraftvollen und konzentrierten Gesamtzustand zu erzeugen, der als Prototyp für Vitalität im eigenen Erleben und Gedächtnis verankert werden soll.
Durch das intensive Trainieren von Aufmerksamkeitsprozessen, die stets das gesamte Selbst (Körperempfindungen, Gedanken, Emotionen, usw.) betreffen, profitiert der Übende nicht nur von kurzfristigen Erholungseffekten, sondern von der zusätzlichen Verbesserung seines gesamten Selbstbezugs.
Diese Techniken finden immer häufiger Eingang in der westlichen Sportmedizin, Psychotherapie und im aktuellen Managementtraining (vergl. Barthruff, 2004; Reddemann, 2004).
Eigentlich entstammt das Tai Chi Chuan aus dem so genannten Nei Kung System.
Dieser Überbegriff ist älter als der Begriff Chi Kung und bedeutet soviel wie: „innere Übung". Nei Kung umfasst das gesamte psycho-physische Trainingssystem rein taoistischen Ursprungs, das den mentalen Übungsaspekten (z.B. Konzentration und Wahrnehmung) eine zentralere Rolle zuteilt als den Atemübungen.
Die Kraft und die Fertigkeiten, die ein Übender durch sein Nei Kung-Training entwickelt, nennt man zusammenfassend Nei Jing.
Das Nei Kung System umfasst das gesamte innere taoistische Übungssystem. Ein Baustein davon ist die taoistische Meditation. Sie zielt ab auf Ruhe, Konzentration, Wahrnehmung und Wille und stärkt so die psychische Vitalität. Die verschiedenen meditativen Übungen des Nei Kung-Systems können im Stehen, Sitzen, Liegen, in Ruhe und auch in Bewegung (z.B. in der Tai Chi Chuan Form) ausgeführt werden. Fortgeschrittene üben sie gar zu zweit innerhalb von Partnerübungen.
In taoistischen Meditationssystemen, z.B. in dem der „Acht Körper", macht der Übende sich mit verschiedenen Bewusstseinszuständen und vielseitigen Körperwahrnehmungen (Jing, Chi, Yi, Hsin) vertraut. Sie ermöglichen es ihm, sein körperliches und seelisches Gleichgewicht schrittweise zu verbessern. Dabei ist das Erlernen einer aufrechten Körperhaltung eine erste wesentliche Voraussetzung.
Eine andere Konzeption der taoistischen Meditation beschäftigt sich mit dem Erlebnis des Yuan Chi (Ursprungsenergie) im Zustand des Wu Wei (nicht wider der Natur handeln).
Dabei gilt es, die innere Ruhelosigkeit nicht zu bekämpfen, sondern sie als ein Zeichen von seelisch-geistiger Vitalität anzunehmen. Denn wirkliche und tiefe Ruhe kann immer nur Ruhe in Bewegung sein. Die taoistische Meditation erschafft sozusagen ein Forum für den Freundschaftsschluss mit der eigenen inneren Bewegung, die unsere Lebenskraft ausmacht, und die sich solange wir leben zwangsläufig immer in uns bewegen muss.
Durch den Zustand des Wu Wei (des Nicht-Handelns) schließlich, weichen das Bemühen um Kontrolle und der Zwang zum Handeln einer tiefen Gelassenheit. Eine solche Meditation hat zur Folge, dass man sich nicht nur kurzfristig erholt, sondern zusätzlich seinen Selbstbezug dauerhaft verbessert. Eine gute Voraussetzung, um Stress gesünder und belastbarer zu bewältigen.
Dao Yin wird häufig auch als taoistisches Yoga bezeichnet. Über dessen tatsächliche Beziehung zum indischen Yoga und seiner Philosophie gibt es eine Reihe von kontroversen Diskussionen (z.B. Needham, 1956; Bock, 2003).
Als Bestandteil des Tai Chi-Systems erfüllen Dao Yin-Übungen das sanfte Dehnen und Strecken von Muskeln und Sehnen sowie das mobilisieren von Gelenken. Natürlich wird auch dieser Übungsfokus kombiniert mit unterstützenden Atemtechniken und meditativen Aufmerksamkeitstrainings. So wird eine bewusste körperliche Geschmeidigkeit kultiviert, die den Tai Chi-Bewegungen nach und nach ihren eleganten fließenden Ausdruck verleihen.
Die Betonung eines traditionell sanften und gleichzeitig konzentrierten Übungsablaufs ermöglicht es Teilnehmern unterschiedlicher Alters- und Fitnessstufen, frühe Übungserfolge zu erzielen.
- Der so genannte Yang-Stil ist wahrscheinlich der bekannteste aus einer Reihe unterschiedlicher Familien-Stile des Tai Chi Chuan. Seine Ursprünge liegen im Dunkeln, da keine eindeutigen historischen Quellen vorliegen, doch lassen sich viele Übungen bis in die Jahrhunderte vor Christi Geburt zurückverfolgen.
- Der Legende nach entwickelte der taoistische Mönch Chang San-Feng im 13. Jahrhundert in seiner Einsiedelei im Wudang Gebirge Tai Chi Chuan als Synthese verschiedener Kampf- und Gesundheitsübungen. Die Idee soll entstanden sein, als Chang San-Feng eine Schlange und einen Kranich beim Kampf beobachtete.
- Gemäß der chinesischen Mythologie erhielt Chang San Feng sein spirituelles Wissen vom Himmelsherrscher des Nordens Xuanwu. Dieser gilt als Beschützer des Wassers und der Dunkelheit sowie als „Herrscher der Himmel des unergründlichen Polarsterns". Auf bildlichen Darstellungen (s.u.) wird er begleitet von einer Schlange und einer schwarzen Schildkröte.
- Ausgehend von Chang San-Feng entwickelten sich bis heute mehrere Stilrichtungen, von denen die Familien Chen, Yang, Wu und Sun sowie die taoistischen Klöster des Wudang Gebirges die größten Schulen hervorgebracht haben.
- Als Begründer des Yang-Stils gilt Yang Lu-Chan (1799-1882). Er hatte das große Glück, von Jiang Fa und Chen Chang-Hsing (1771-1853) in die Geheimnisse des Tai Chi Chuans eingewiesen zu werden. Daraus entwickelte er seinen eigenen Stil, mit dem es ihm gelang, in zahlreichen Kämpfen mit überragenden Meistern anderer Kampfkünste unbesiegt zu bleiben. Er brach mit der Tradition, die vorschrieb, die Künste des Tai Chi Chuans nur innerhalb der Familienlinie weiterzugeben.
- Die Überlegenheit und die Erfolge Yang Lu-Chans beeindruckten den chinesischen Kaiser so sehr, dass er ihn als Lehrer an den kaiserlichen Hof berief. Noch zuvor hatte Lu-Chan begonnen, Tai Chi Chuan öffentlich zu unterrichten und den Wert dieser Bewegungskunst für die Gesundheit zu betonen. Er war der erste Tai Chi Lehrer, der sein Wissen auch außerhalb der Klostermauern weitergab. Heute gilt er als Begründer des Yang-Stils.
- Sein Enkel Yang Chen-Fu (1883-1936) verbreitete diesen Stil im gesamten China und machte ihn so berühmt, dass er heute der weltweit bekannteste Tai Chi Chuan-Stil ist.
Kapitel 78
Nichts auf Erden ist so weich und schwach
wie das Wasser.
Dennoch, im Angriff auf das Feste und Starke
wird es durch nichts besiegt:
Das Nicht-Sein macht ihm dies leicht.
Schwaches besiegt das Starke;
Weiches besiegt das Harte.
Niemand auf Erden, der das nicht weiß,
Niemand, der ihm zu folgen vermag.
Lao-tse, Tao-Tê-King, Kapitel 78 (ca. 500 v. Chr.)